Das letzte Jahr habe ich genutzt, um in vielen verschiedenen Konstellationen zu arbeiten, um Online-Workshops zu entwickeln. Ein Arbeitskreis beschäftigte sich mit dem Thema Zukunft. Die schließlich im Test-Workshop angewendete Methode entpuppte sich für mich jedoch als größere Überraschung.
Einen sehr großen Teil meines Studiums habe ich der Kritischen Theorie und Erwachsenpädagogik gewidmet.
Gegenstand der Theorie ist die ideologiekritische Analyse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, das heißt: die Aufdeckung ihrer Herrschafts- und Unterdrückungsmechanismen und die Hinterfragung ihrer Ideologien, mit dem Ziel einer vernünftigen Gesellschaft mündiger Menschen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Kritische_Theorie
Ich möchte das unterstreichen, weil ich kein Theaterpädagoge bin. Ich kenne mich nicht aus mit Dramaturgie, Drehbüchern und auch nicht mit Ritualen, auch wenn ich das Konzept durchaus aus dem Unterricht an Schulen kennen gelernt habe; höchstens jedoch in minimalistischer Form.
Wenn ich als Moderator tätig bin, dann bin ich also geprägt von der Erwachsenenpädagogik, der es sehr am Herzen liegt, Menschen aufzuklären, zu unterstützen und gleichzeitig Dinge zu hinterfragen, zu öffnen und die Menschen von bestimmten Mechanismen zu befreien.
Ich arbeite seit über zehn Jahren jetzt an diesen Themen wie Agile Frameworks, Agiles Coaching und die Begleitung von Veränderung. Agilität bedeutet für mich im Kern die regelmäßige Anwendung von Transparenz, Inspektion und Anpassung, im Grunde um die Welt jeden Tag zu einen besseren Ort für uns Menschen zu machen und anderen dabei zu helfen, es selbst zu tun. Ich wünsche mir eine konstruktive Zukunft, in der wir miteinander arbeiten und nicht jede*r versucht, sich besser darzustellen, als das Gegenüber. Es geht mir um gemeinsame Ergebnisse, geteilte Gedanken und Fortschritt durch Vielfalt.
Meine Familie ist alt. Mein Großonkel inzwischen über 100 und viele von meiner Familie waren am Krieg beteiligt. Und danach kam die Besatzung sowie die Mauer und ein großflächiges Gleichschaltungsprogramm in der DDR mit ziemlich vielen Ritualen, meines Wissens. Natürlich sind Rituale auch etwas Schönes: Gemeinsam mit der Familie Zeit verbringen, die Tasse Tee am Abend, ein Treffen in der Woche, um gemeinsam Sport zu machen. Und es ist auch für mich ein positiver Gedanke, wenn sich Menschen treffen, um zu tanzen oder zu singen, weil das zu ihrem Club, ihrer Partei oder ihrem Freund*innenkreis dazugehört. Gerade in Berlin, bin ich Vielfalt gewohnt und wünschte, wir würden sie auch in anderen Teilen der Welt so sehr leben, wie in dieser Stadt.
Warum also nicht auch Rituale einsetzen, wenn wir moderieren oder einen Workshop gestalten? Die Vorteile liegen auf der Hand:
Und jetzt muss ich mutmaßen, weil ich wie gesagt kein Theaterpädagoge bin; aber ich vermute, dass uns Rituale oder Drehbücher sehr viel Orientierung und ein Gefühl von „so wird es ablaufen“ geben. Wir sprechen uns ab, wir verteilen die Rollen, wir gehen in das Geschehen und dann beginnt das Stück. Zur Not flüstern wir uns etwas zu, wenn wir ein kleines Blackout haben und dann gibt es ja noch das Impro-Theater, wo ohnehin jeder sehr frei spielen und reagieren kann. So stelle ich mir das jedenfalls vor.
Denn auch so ein Framework wie Scrum z. B. hat ja seine Rollen, Ereignisse und Artefakte. Wir haben also klare Ansagen, wer welche Verantwortung hat und in welcher Reihenfolge, was passiert. Scrum ist ja genau dafür da, in komplexen Umfeldern zu reagieren, also auch auf menschliche Bedürfnisse! Aber Rituale sind eben doch etwas anderes oder gibt es Rituale, die sich selbst in Frage stellen dürfen? Gibt es einen Zeitpunkt, an dem die Menschen aufstehen dürfen und sagen können: Das war’s! Wir müssen etwas anderes ausprobieren? Ich habe gelernt, dass es eher nicht so ist. Scheinbar ist ein Ritual wirklich das, womit ich es eingeleitet hatte, nämlich eine ziemlich feste Vorgehensweise. Alle genannten Vorteile haben ihren Preis. Und anders als in agilen Umfeldern dürfen wir eben nicht:
Wir kommen schnell zum Ziel, aber sind vielleicht gar nicht dort rausgekommen, wo wir landen wollten. Und dies widerstrebt allen agilen Ideen, mit denen ich beruflich die letzten Jahre sozialisiert wurde. Und ebenfalls widerspricht es meiner Haltung aus der Kritischen Theorie. Es bereitet mir sogar Sorgen.
Und so ist die Hoffnung: Vielleicht habe ich ja einfach etwas nicht verstanden, als ich außerhalb der New Work Academy einen Workshop zum Thema Zukunft mit dem oben genannten Arbeitskreis durchführte. Denn das dort angewendete Ritual fühlte sich alles andere als gut an. Auch eine (Er-)Klärung bezüglich dieser Erfahrung, in der wir versuchten den Wert Vertrauen dem anderen Wert Transparenz gegenüberzustellen, passte für mich irgendwie nicht. Vertrauen ist schnell zerstört, braucht aber seine Zeit um aufgebaut zu werden. Für mich steht der Wert des Vertrauens auch nicht dem Wert der Transparenz gegenüber. Aber vielleicht vertrauen wir uns ja anders, wenn wir in Ritualen zusammenarbeiten? Für diesen Vertrauensvorschuss braucht es aus meiner Sicht jedoch Transparenz! Und zwar mindestens darüber, welchen Preis wir für die besagten Vorteile des Rituals zu zahlen haben. Dieser war mir nicht bekannt und so tappte ich voll in die Ritual-Falle.
Kurz gesagt, ich war krank und nicht vorbereitet. Das sind gleich zwei Dinge, die ich in Zukunft anders machen würde. Also entweder ganz absagen oder eben doch vorbereiten. Auch eine Rollenklärung meinerseits wäre hilfreich gewesen. Als Agilist und Pädagoge hinterfrage ich Strukturen und wünsche mir Transparenz.
Stattdessen stolperte ich in unsere Veranstaltung. Ich war für sie mitverantwortlich. Die Struktur war vorgelegt, die Agenda wurde aber nicht gezeigt. Die Struktur oder die Rollen wurden den Teilnehmenden nicht erläutert. Stattdessen wurden alle Anwesenden zugeordnet, bekamen Rollen (Zukunft und Gegenwart), die nicht klar definiert waren und gerieten in eine Übung, von der gar nicht gesagt wurde, dass es sich um ein Ritual handelte. Dann passierte vieles, aber wir konnten als Moderator*innenteam gar nicht zusehen, weil wir nicht in den jeweiligen Breakout-Sessions waren. Und nach vielen Runden des gegenseitigen Nichtwissens, in denen die Teilnehmenden gemischt wurden, jedoch ohne das wir erläuterten, warum jetzt wer zusammenarbeitet, kamen wir in einer großen Runde vor dem Bild eines Lagerfeuers zusammen.
Anstatt jedoch in eine Retrospektive zu gehen, zumal das ja unser Test-Workshop war und wir etwas daraus lernen wollten, ging das Ritual weiter! Nun sollte jede*r einzeln*e etwas mitteilen, was gerade so in ihren oder seinen Kopf kam. Dies war sehr unterschiedlich und bezog sich selten auf die Übung oder die anderen Teilnehmenden. Und schließlich sang eine Teilnehmerin ein ziemlich christliches und ungewöhnliches Weihnachtslied.
Das war dann auch so ziemlich genau der Zeitpunkt, wo ich die Intransparenz und die fehlende Möglichkeit an Inspektion und Anpassung nicht mehr aushielt und den Mund aufmachte. Das Ritual hatte eine gute Stimmung verbreitet, aber es gab keinen inhaltlichen Austausch. Vielleicht war dies sogar das Ziel oder die Natur des Rituals? Für mich fühlte es sich jedoch nicht konstruktiv an. Wir lernten nichts voneinander, wir sprachen nicht miteinander, wir fanden nichts über unsere Veranstaltung heraus und wir bekamen keine Hinweise, ob und was wir das nächste Mal anders gestalten könnten? Es waren 16 talentierte und professionelle Menschen mit zahlreichen Fähigkeiten im Raum, doch dem Ritual war es gelungen, dies alles auszuschalten. Niemand profitierte von dem anderen und wir verbrannten unsere Zeit im dem Lagerfeuer, was vor uns auf dem Monitor flackerte.
Und dann kamen sie doch, die im Nachgang aufklärenden und reflektierenden Gespräche. In verschiedenen Runden sprach ich über das Für und Wider der besagten Veranstaltung. Wir sprachen über Werte und Verhaltensweisen und über Verantwortungen. Am Schönsten fand ich die Idee, dass Rituale einzeln vermutlich nicht mein Fall sind, aber wenn wir ihnen einen reflexiven Rahmen geben, also uns im Vorfeld absprechen, was passieren darf und was nicht oder vielleicht auf Exit-Optionen einigen sowie die Teilnehmenden besser einleiten, abholen und einführen, das Ritual selbst weniger zwanghaft abläuft. Und im Anschluss könnten wir ja doch zusammen in die Retrospektive gehen, über die Erfahrungen und Wahrnehmungen gemeinsam sprechen und überlegen, was dieses Ritual mit uns als Gruppe (nicht nur einzeln!) gemacht hat.
Vor allem längere Rituale halte ich für bedenklich. Sie brauchen eine gute Vorbereitung und ein sehr bestimmtes Einlassen und zwar auf Seiten der Durchführenden und der Teilnehmenden. Vielleicht sogar psychische Begleitung und eine Prise Aufklärung. Rituale wurden in der Menschheitsgeschichte oft ausgenutzt, um Menschen in eine gewisse Richtung zu lenken. Das entspricht nicht meinem Stil. Ich möchte Menschen lieber Gestaltungskompetenzen an die Hand geben, mit denen sie selbst ihren Weg gehen und ihn wieder verlassen können, wenn sie es selbst für richtig halten. Rituale erscheinen mir in der heutigen Zeit nicht agil und nicht bedürfnisorientiert. Wir leben in Zeiten des Wandels, in denen unsere Acht- und Aufmerksamkeit geschult und stets wachsam sein sollte. Eine agile Haltung hilft uns, Strukturen zu enttarnen und aufzubrechen, wenn sie uns Menschen nicht gut tut. Bei Ritualen bin ich mir nicht sicher, ob sie den diesen Anforderungen gerecht werden können.