Wie kann trotz mangelnder Expertise der Einstieg in die Agilität gelingen? Indem die Prinzipien und Mechanismen von agilen Frameworks konsequent genutzt werden. Dann ist es kein Hindernis, wenn es im Team an Wissen und Erfahren mangelt. Denn wie Produkt und Prozess durch agiles Arbeiten kontinuierlich besser werden, nehmen auch Kompetenz und Wissen permanent zu.
Die Prinzipien agiler Frameworks, wie Kanban oder Scrum, sind auch für Einsteiger einfach erklärbar und einleuchtend. Dennoch sind es zunächst theoretische Konstrukte, die alleine durch die verwendeten Begriffe, wie Artefakt, Daily Standup oder Scrum Master, verwirren und sogar abschrecken. Der Einstieg ist also kein Selbstläufer. In den wenigsten Fällen reicht es, den Scrum Guide zu lesen, um erfolgreich Scrum anzuwenden. Vielmehr ist es notwendig, die Frameworks im Alltag zu erproben, um ihre Wirksamkeit zu erleben. Die praktischen Erfahrungen sind weitaus wirkmächtiger als alle theoretischen Vorbereitungen.
Dennoch können agile Frameworks ohne umfangreiches Vorwissen eingesetzt werden. Denn im agilen Manifest heißt es gleich zu Beginn „Wir finden bessere Weg zu arbeiten“. Nicht, wir kennen bessere Wege oder wir nutzen bessere Wege, sondern wir finden diese. Sie sind nicht bekannt, es ist das Ziel, diese zu finden.
Das Prinzip des unmittelbaren Beginns ist in den agilen Frameworks fest verankert. So ist beispielsweise der Scrum Guide sehr klar bezüglich des Startes eines frisch zusammengestellten Scrum Teams oder eines neuen Produktes. Am Anfang steht immer der erste Sprint, egal, ob sich das Personal kennt, was über die Produktvision bekannt ist oder wie viele Backlog Items definiert sind. Selbst wenn kein einziges vorhanden ist, wird der Sprint mit dem Sprint Planning Meeting gestartet. Dort werden zunächst die Backlog Items für die ersten Tage erstellt, so dass im Anschluss die Arbeit direkt beginnen kann. Auch für diesen Sprint gilt, dass am Ende ein potentiell auslieferbares Inkrement vorliegen sollte.
Höchstwahrscheinlich wird das Ergebnis mit dem später zu entwickelnden Produkt wenig gemeinsam haben. Doch dies ist unwichtig. Relevant ist, dass bereits nach kurzer Zeit, am Ende des Sprints, eine erste Produktversion an der Realität überprüft wird. Dasselbe gilt für die Arbeitsprozesse. Diese werden am Anfang, insbesondere wenn das Team neu zusammengestellt worden ist, nicht so effizient und produktiv sein, wie zu einem späteren Zeitpunkt.
Ein Team, welches über keine Erfahrungen mit agiler Arbeit verfügt und mit dem eingesetzten Framework nur theoretisch vertraut ist, wird zu Beginn vieles falsch umsetzen. Das stellt jedoch kein Problem dar. Denn die Tatsache, dass erste Erkenntnisse zu Produkt und Prozess nach kurzer Zeit vorliegen, ist entscheidend. Zumal das kontinuierliche Streben nach Optimierungen von Wie und Was Teil der Agilität ist und wenig optimale Ergebnisse unmittelbar und schnell verbessert werden.
Auf Einsteiger ins agile Arbeiten wirkt diese Praxis zunächst verunsichernd. Ablehnung und Skepsis sind keine Ausnahmen. Gilt umfangreiches Vorbereiten doch als Bedingung für hochwertige Ergebnisse. Dennoch scheitert dieses vermeintlich abgesicherte Vorgehen nur zu oft an der Realität. Wer sich hingegen auf agiles Arbeiten einlässt, wird schnell die Vorteile erfahren. Voraussetzung dafür ist das Befolgen weniger Grundprinzipien, wie die regelmäßige Überprüfung von Arbeit und Prozess. Dies ist sowohl in Scrum als auch in den Frameworks von Kanban und Design Thinking definiert. Ein Team mag am Anfang noch so dilettantisch in der Umsetzung von Agilität sein, solange es zyklisch reflektiert und das eigene Vorgehen mit dem Framework abgleicht, wird es sich kontinuierlich verbessern.
Hier zeigt sich eine besondere Stärke agilen Arbeitens: die Selbstorganisation. Indem Teams regelmäßig ihre Ergebnisse und Prozesse selbstständig überprüfen und gemeinsam an der Optimierung wirken, kommen die Verbesserungen von innen und sind daher authentisch und nachhaltig.
Gleichzeitig ist dieses Vorgehen befreiend. Teams und Produktverantwortliche sind nicht mehr dem Druck ausgesetzt, von Beginn an zu wissen, wie die Idealvision des Produktes aussieht. Irrwege sind im agilen Arbeiten Teil der Entwicklung und stellen wertvolle Erkenntnisgewinne dar. Etwaige Fehler sind schnell korrigiert und haben keine weitreichenden Auswirkungen. Einmal realisiert, ermöglicht es mutiges Voranschreiten.
Die stetige Verbesserung von Produkt und Prozess durch regelmäßiges Reflektieren haben alle agilen Frameworks gemeinsam. Sie versetzen Teams in die Lage, sich auf den Weg zu machen und zu exzellenten Ergebnissen zu gelangen, ohne die Strecke, das finale Ziel oder das konkrete Vorgehen zu kennen. Tiefgehendes Wissen oder jahrelange Erfahrungen mit agilem Arbeiten sind nicht nötig. So wie sich Produkt und Prozess kontinuierlich verbessern, wächst auch das Wissen. Wichtiger zu Beginn ist Offenheit und die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen.
Jörg Faber ist agiler Coach und langjährige Führungskraft für Kommunikation und digitale Produktentwicklung. Er bloggt unter simplizist.de zu New Work, Agilität und Selbstmanagement.